Reorganisation & Transformation

Mut, in Reorganisationen das Unfertige umzusetzen

Im «Go Live» einer Reorganisation ist der entschiedene Sprung in den unfertigen Zukunftszustand besser als das Feilen an der perfekten Lösung. Nur wenn sich die Organisation rasch dem Kern des Neuen aussetzt, schwinden die Sorgen und Ängste der Entscheidungsträgerinnen und -träger. Mir hat ein konkreter Fall dafür eindrücklich die Augen geöffnet.

Sorgen und Ängste in der Go Live-Phase einer Reorganisation

Die Go-Live-Phase, in der eine Organisation in das neu definierte Setting übergeht, ist eine der anspruchsvollsten Phasen einer Reorganisation. In dieser Übergangszeit, in der das Alte noch stark präsent ist und das Neue noch keine praktische Form angenommen hat, kumulieren viele Befürchtungen. Dieser unbestimmte Zustand ist insbesondere auch für Entscheidungsträger oft schwer zu bewältigen.

Die Art des gewählten Vorgehens (z. B. eher partizipativ oder top-down) kann das, was im Vordergrund steht, beeinflussen. Es ist jedoch unbestreitbar, dass wesentliche Sorgen und Ängste vorhanden sind, beispielsweise:

  • Die Angst, ob die neu entwickelte Lösung in der Praxis tatsächlich funktioniert.
  • Die Sorge über unvorhergesehene Ereignisse, welche die Implementierung stören könnten.
  • Die Besorgnis bezüglich Unruhe, Kritik und Widerstand innerhalb des Systems.
  • Der Respekt davor, unangenehme Entscheide treffen zu müssen.
  • Die Furcht vor Kontrollverlust.

Beobachtbare Bewältigungsstrategien, die nicht weiterhelfen

In diesem Schwebezustand lassen sich verschiedene Bewältigungsstrategien beobachten. Einige dieser Strategien könnten den erfolgreichen «Go Live» beeinträchtigen:

  • Mit Detailarbeit vermeintlich Unsicherheit abbauen: Feilen an allen möglichen Details, um möglichst viele Lücken zu schliessen und optimale Lösungen zu generieren. Als Folge droht der Kern der Reorganisation aus dem Fokus zu geraten.
  • Durch Anpassungen Unruhe vermeiden: Festgelegte Elemente der Implementierung bereits nach kurzer Zeit aussetzen oder anpassen, weil sie schmerzhaft sind. Als Folge droht eine Reorganisation, der wichtige Eckwerte zum Erfolg fehlen.
  • Den Prozess verzögern, um den Übergang zu erleichtern: Nötige Entscheide verzögern und das Tempo reduzieren, um möglichst vielen Betroffenen die Anpassung an das Neue zu erleichtern. Als Folge droht eine verlängerte Beschäftigung mit sich selbst, anstelle der Konzentration auf die Leistungen für die Kunden.
  • Den Erfolg frühzeitig evaluieren: Frühzeitig über Erfolg und Misserfolg debattieren und damit vom festgelegten und nötigen Implementierungsweg ablenken. Es droht ein Abfluss an nötiger Veränderungsenergie.

Ein möglicher Weg, praktisch illustriert

Das in einem früheren Blogbeitrag beschriebene Beispiel von La Castalie (zur Institution vgl. die Informationen am Ende des Textes) zeigt eine mögliche Alternative (vgl. dazu auch den ausführlichen Projektbeschrieb in der zfo).

Der Starttermin für das grundlegend neu ausgerichtete Organisationsmodell – von einem funktionalen, hierarchischen zu einem kundenzentrierten, kollaborativen/selbstgeführten und agilen Modell – war für das Frühjahr 2020, mitten in der ersten Pandemiewelle, vorgesehen. Trotz sorgfältiger Vorbereitung der Institution hatten die Mitglieder der Geschäftsleitung zunächst erhebliche Bedenken hinsichtlich der Umsetzung der neuen Organisation unter diesen Umständen: Die grossen operativen Herausforderungen bei der Betreuung besonders vulnerabler Personen aufgrund von Covid-19 liessen eine zusätzliche Belastung und Verunsicherung durch die Reorganisation als unklug erscheinen. Zudem waren viele Elemente der organisatorischen Zukunft im Detail noch nicht vollständig ausgearbeitet, und die besondere Situation liess keine Zeit dafür.

Trotz der vorhandenen Bedenken wurde zum vorgesehenen Zeitpunkt im Rahmen eines klaren Implementierungsplans und mit starkem Vertrauen in die erarbeitete Lösung umgesetzt. Ein von den Verantwortlichen ausdrücklich benannter Erfolgsfaktor war, dass die Pandemiesituation die Konzentration auf das Wesentliche der Reorganisation erheblich unterstützt hat. Nach dem endgültigen «Go» blieb keine Zeit, um sich mit allen Details zu befassen, Dinge zu zerreden, die perfekte Lösung zu entwerfen, zu lavieren oder sich Ängsten hinzugeben. Aufgrund der Krisensituation war schnelles Handeln erforderlich, und die Kernaspekte der neuen Organisation mussten gezielt umgesetzt werden.

Dies ist erfolgreich gelungen – durch das rasch implementierte Organisationsmodell konnte viel effektiver auf die Pandemiesituation reagiert werden, weil die Teams tatsächlich handlungs- und entscheidungsfähig waren. Später mussten Details nachgeliefert und Lösungen nachjustiert werden, und der Übergang der Führungsfunktionen in ein Coaching-Modus war erst mit der Zeit befriedigend sichergestellt.

Was können wir aus diesem Beispiel lernen?

Konkrete Learnings für die «Go Live»-Phase einer Reorganisation

Zunächst sollten wir eine mutige Denkweise annehmen: Wenn das „Go Live“ einer grundlegenden Reorganisation in einem so sensiblen Umfeld und in einer für die „Kunden“ bedrohlichen Krise möglich ist, können wir dies auch in anderen Kontexten erfolgreich umsetzen und dabei selbstbewusst vorgehen.

Des Weiteren lernen wir:

  1. Perfektion im Detail ist in der Regel weder vor noch während der «Go Live»-Phase notwendig oder hilfreich. Viele Elemente eines Organisationsmodells zeigen ihre Tauglichkeit erst im praktischen Gebrauch. Das Schliessen von Lücken und der Feinschliff können auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Wichtig ist, dass dieser "Modus Operandi" möglichst allen bekannt ist, da dies die Motivation zur Mitwirkung an den weiteren notwendigen Verbesserungen fördert.
  2. Knappere Ressourcen und engere Zeitvorgaben in einer ersten Phase helfen dabei, den Fokus auf die wesentlichen Aspekte der Reorganisation zu legen und diese umzusetzen. Dadurch bleiben Details und verschlungene Wege zunächst aussen vor. Ein solider, verständlicher und gut kommunizierter Implementierungsprozess, der konsequent umgesetzt wird, bietet Orientierung und Sicherheit.
  3. Schlussendlich hilft für die Bewältigung von Sorgen und Ängste im Go Live nur, das System den neuen Gegebenheiten auszusetzen. Durch die konkrete Exposition mit dem neuen Organisationsmodell lösen praktische Erfahrungen belastende Vorstellungen und theoretische Ideen über die Zukunft ab. Nur Aktion schafft Klarheit, ermöglicht Erfolge und später auf ineffektive Aspekte zu reagieren.

 

Unabhängig vom Schweregrad hat La Castalie die Aufgabe, jeder Person mit geistiger oder mehrfachen Behinderungen einen angepassten Lebensrahmen und ein individualisiertes Betreuungsprogramm zu bieten. Im Jahre 2023 wurden 221 Heimbewohner und Schüler betreut (77 % Erwachsene und 23 % Kinder und Jugendliche). La Castalie ist eine gemeinnützige, selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit in Monthey. Sie ist die grösste Institution dieser Art im Kanton Wallis, Schweiz.

 

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Benötigen Sie zusätzliche Informationen zu den oben beschriebenen Inhalten? Haben Sie Fragen oder Diskussionsbedarf zu Themen in den Bereichen Strategie, Governance, Organisationsdesign und Reorganisationen/Restrukturierungen? Ich freue mich über Ihre Kontaktaufnahme: andreas.wenger@transforma.ch, +41 43 222 58 40.

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