Der Übereinstimmungsgrad von dem, was öffentlich verkündet wird, und dem, was später tatsächlich erlebt wird, ist in Veränderungsprozessen oft klein. Dies ist keine gute Voraussetzung für den Erfolg. Auch wenn die Beweggründe nicht immer abwegig sind, entstehen dadurch unnötige und unbeabsichtigte Folgekosten. Doch wie kann man diese Lücke verhindern?
Beispiele…
Schon erlebt, als Betroffene(r) oder Verantwortliche(r)? Eine grosse betriebliche Veränderung wird angekündigt. Später stellen wir fest, dass das, was öffentlich versprochen wurde sich nicht mit dem deckt, was wir erleben. Enttäuschung macht sich breit, auf allen Seiten.
Eine «Hochzeit im Himmel» sollte es werden, als Jürgen Schrempp 1998 die Fusion von Daimler-Benz mit Chrysler ankündigte. Es wurde ein Milliardengrab, bis sich die Unternehmen im Jahr 2007 wieder trennten. Ein eklatantes Beispiel, bei dem viel versprochen («Proklamation») und wenig eingehalten wurde («erlebte Realität»). Näher an unserem Arbeitsalltag ist das Beispiel von Reorganisationen, wenn auf Grossraumbüros umgestellt wird. Dort werden nicht selten die positiven Aspekte hervorgehoben und mögliche Schwierigkeiten oder Beweggründe (z. B. Kosteneinsparungen) nur am Rande oder gar nicht thematisiert. So sollen die neuen Büros beispielsweise die Zusammenarbeit und Flexibilität fördern («Proklamation»), können aber in der Umsetzung zu mangelnder Privatsphäre sowie Ablenkungen und Störungen durch Lärm oder andere Mitarbeitende führen («erlebte Realität»).
Mind the gap: Warum gibt es in Reorganisationen immer wieder solche Diskrepanzen? Was sind die Folgen und was wäre zu tun?
Gründe für Abweichungen zwischen Proklamiertem und Erlebtem
Wesentliche Gründe dafür, dass in betrieblichen Veränderungen oft eine grosse Kluft zwischen dem, was angekündigt wird («Proklamation»), und dem, was tatsächlich später erlebt wird, entsteht, haben ihren Ursprung bereits zu Beginn der Vorhaben:
- Strategische Kommunikation: Positive Aspekte von Veränderungen werden betont, um die Unterstützung von Mitarbeitenden, Stakeholdern und Investoren zu sichern. Herausforderungen und negative Aspekte der Reorganisation treten in den Hintergrund.
- Mangelnde Offenheit: Gründe und Ziele einer Reorganisation werden nur teilweise offengelegt, um Unsicherheiten und Widerstände zu minimiert. Oder weil es im Moment der Kommunikation schlichtweg einfacher scheint.
- Unzureichende Planung: Komplexität und Risiken von Reorganisationsprozessen werden in der Planung oft unterschätzt. Ziele und Erwartungen sind nicht realistisch genug, tatsächliche Herausforderungen werden nicht angemessen berücksichtigt.
- Und – ehrlicher Blick in den Spiegel - es passiert auch uns: Selbstüberschätzung der Führungsverantwortlichen, in dem die Erfolgsaussichten von Reorganisationen überschätzt und die Herausforderungen unterschätzt werden.
Ungünstige Folgen für den Verlauf betrieblicher Veränderungen
Grössere Abweichungen zwischen Versprochenem und dem, was später erlebt wird, haben durch das, was sie bei den Betroffenen auslösen in der Regel unschöne Konsequenzen. Drei wichtige Folgen für den weiteren Verlauf einer betrieblichen Veränderung sind:
- Vertrauensverlust: Wenn Mitarbeitende merken, dass das in einem Reorganisationsprozess Proklamierte in der Realität nicht eingehalten wird, kann dies zu einem erheblichen Vertrauensverlust führen. Dies beeinflusst die Arbeitsbeziehungen, die Motivation und das Engagement der Mitarbeitenden für die Veränderung negativ.
- Widerstand: Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass die Führungskräfte nicht authentisch sind, werden Veränderungen schlechter akzeptiert und Widerstand geleistet. Dies kann den Erfolg von Reorganisationen erheblich beeinträchtigen.
- Kommunikationsprobleme: Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass das Management nicht transparent ist, sind sie selbst weniger geneigt, offen und ehrlich zu kommunizieren. Dies führt zu Missverständnissen und Ineffizienzen in Reorganisationsprozessen.
Mind the gap: Sich der Herausforderung von Beginn an bewusst sein
Wichtige Ursachen für die beschriebenen Diskrepanzen liegen zu Beginn von Veränderungen. Darum müssen wir auch bereits am Anfang solcher Prozesse aktiv handeln. Jenseits der bekannten Best Practices eines guten Veränderungsmanagements wie klare Ziele, Mitarbeitende einbeziehen, transparente und offene Kommunikation, Feedbackschlaufen, «Walk the Talk», Schulungen, Pilotprojekte etc. (vgl. beispielsweise Höfler, M. et al 2018) bedeutet dies, sich wirklich an das Problem zu erinnern und es bewusst auf die Agenda zu setzen: Mind the gap!
Wie ich immer wieder beobachten kann, ist dies weniger trivial, als es klingt. Denn in der Anfangsphase einer Veränderung dominieren oft andere Themen, wie handfestes Projektmanagement. Im typischen Anfangsrush fällt es oft schwer, die Balance zwischen Versprechungen und der späteren Realität im Auge zu haben.
Daher: Denken wir zu Beginn des Prozesses ausdrücklich an die beschriebenen Zusammenhänge. Werden wir uns der Folgen unserer geplanten Ankündigungen bewusst. Nehmen wir die Stakeholder, die Betroffenen ernst und überlegen uns, wie wir mit ihren Erwartungen umgehen wollen und können. Wägen wir die Chancen und Risiken unterschiedlicher Möglichkeiten bewusst ab. Bemühen wir uns ehrlich, den delikaten Übereinstimmungsgrad zwischen dem Proklamierten, unseren Versprechen, und den geplanten und später ausgeführten Handlungen und deren Folgen von Beginn an im Auge zu haben.
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Für den Blogbeitrag verwendete Quellen (Buchquellen via Amazon Partner-Link):
- Zur strategischen Kommunikation vgl. z. B. Clampitt, P. G., DeKoch, R. J., & Cashman, T. (2000) und Tourish, D., & Robson, P. (2006).
- Zu mangelnder Offenheit vgl. z. B. Höfler, M. et al (2018)
- Zur unzureichenden Planung vgl. z. B. Kotter, J. P. (1995) und Robinson, H. (2019).
- Zur Selbstüberschätzung vgl. z. B. Lovallo, D., & Kahneman, D. (2003).
- Zu Vertrauensverlust vgl. z. B. Kramer, R. M., & Lewicki, R. J. [Hrsg.] (2012) und Gustafsson et al. (2021).
- Zu Widerstand gegen Veränderungen vgl. z. B. Khaw, K. W. et al (2022)
- Zu Kommunikationsproblemen vgl. z. B. Elving, W.J.L. (2005) und Welch, M. (2012)